Aufgezeichnet von Meike Krämer
Sebastian Wierling ist Notfallsanitäter und lebt in Hamburg. Vergangenes Jahr wurde er durch einen Kollegen auf die Arbeit des Seenotrettungsschiffes „Minden“ aufmerksam. Gerade befindet er sich wieder an Bord des LifeBoats auf seiner Rettungsmission vor der libyschen Küste. Der 34-Jährige hatte beruflich immer mal wieder in Erstaufnahme-Einrichtungen für Flüchtlinge zu tun und begann, sich für die Hintergründe der Geflüchteten zu interessieren: Woher kommen die Menschen? Wie sind sie in Hamburg gelandet? Und aus welchen Gründen? Dies ist seine Geschichte.
„Das erste Mal war ich Anfang November 2016 während meiner Urlaubszeit auf dem LifeBoat. Ich komme aus der Krankenpflege und bin im Rettungsdienst tätig, habe also schon viel erlebt und mit Menschen in Notsituationen zu tun gehabt. Auf der „Minden“ war das aber etwas ganz Anderes. Die Geflüchteten sind auf Booten eingequetscht mit 120-130 anderen Personen. Die Menschen haben keine Ahnung vom Meer, wissen nicht, was Seegang ist, können nicht schwimmen und haben keine Ahnung, wie weit es bis zur europäischen Küste ist. Sie haben eine lange Flucht hinter sich und werden dann aufs Meer geschickt. Man merkt diesen Leuten einfach an, dass sie durch sind. Sie sind psychisch und physisch am Ende, müssen dann noch ohne Vorräte und Trinkwasser über das Meer und sind mitten in dieser Weite, wo nichts ist. Sie sind fertig mit der Welt, wenn man sie an Bord nimmt. Viele sind krank, erschöpft oder haben alte Wunden, die sich entzündet haben, leiden unter Infekten, die sie nicht auskurieren können. Es sind aber auch noch ganz andere Verletzungen dabei, durch das Salzwasser, die Sonne, das Benzin und Verbrennungen durch die ständige Reibung am Boot. Irgendwann macht das der Kreislauf auch nicht mehr mit.
Da war ein Vater mit seinen zwei Kindern. Er war gar nicht mehr in der Lage, sich um die beiden zu kümmern. Er brauchte erst mal seine Zeit an Bord, um zu realisieren, dass er überlebt hat, dass seine Kinder überlebt haben, die Frau leider nicht. Auch Mütter, die neben ihrem bewusstlosen Kind sitzen, total zusammengesunken. Da ist kein Körperkontakt, man merkt einfach, dass sie auf Distanz gegangen sind. Sie haben abgeschlossen und den Gedanken akzeptiert, dass sie das nicht überleben werden. Sie haben sich psychisch distanziert und brauchen lange, bis sie sich wieder um ihre Kinder kümmern können. Auf der anderen Seite habe ich aber auch viel Menschlichkeit erlebt, weil sich beispielsweise die Männer darum kümmern, dass Frauen und Kinder zuerst an Bord des sicheren Schiffes kommen, dass Frauen sich um fremde Kinder gekümmert haben, die allein auf dem Boot waren. Sie haben diese Kinder in den Arm genommen und getröstet.
Die Menschen, die wir retten, sind sehr dankbar. Etwas, das ich hier in Deutschland im Rettungsdienst oft vermisse. Hier wird so etwas für selbstverständlich genommen, als Dienstleistung, die jedem zusteht. Aber dort rechnen die Menschen nicht damit, dass ihnen jemand hilft. Das hat mich schon auch gepackt.
Ich bin kein politischer Typ, absolut nicht. Ich habe zwar meine Meinung, aber das ist nichts für mich, dieses ganze politische Gequatsche und dieses Geschacher. Das sind Menschen in Not! Kein Mensch muss auf dem Meer sterben, keiner muss ertrinken, verhungern oder verdursten. Jeder Mensch soll leben und jeder Mensch soll seine Chance kriegen – und nicht aufgrund irgendeines komischen Wirrwarrs, wegen eines Krieges oder irgendwelcher politischen Entscheidungen, auf Wege gebracht werden, auf denen er stirbt. Das treibt mich an. In Deutschland lebe ich in einem vergleichbaren Luxus. Wir haben hier eine sichere Struktur und dort sind Leute in Not, also nehme ich ein bisschen von meinem Luxus, meinen Urlaub, und gehe da runter und helfe, damit jeder seine Chance kriegt und sein Leben weiter gestalten kann.“