Die meisten Geflüchteten, die HAMBURGER*MIT HERZ in Hamburg bei der Integration unterstützt, stammen aus Eritrea. Eritrea ist ein kleines Land in Ost-Afrika mit nur 5 Millionen Einwohnern, aus dem jedes Jahr viele Tausend  fliehen. Ein Land, über das die Meisten nichts wissen. Warum fliehen Menschen von dort? Wie ist die Lage im Land? Dr. Nicole Hirt vom Institut für Afrikastudien am GIGA Hamburg hat viele Jahre in Eritrea gelebt, gearbeitet und darüber geforscht und hat uns ein paar Fragen beantwortet:

1. Jedes Jahr fliehen tausende Menschen aus Eritrea nach Europa und leben hier mit subsidiärem Schutzstatus. Aktuell ist dort kein Krieg. Wovor fliehen die Menschen? 

Nicole Hirt: Eritrea befindet sich zwar nicht im Krieg, aber in einem Zustand des „kalten Friedens“ mit Äthiopien. Beide Länder führten von 1998 bis 2000 einen verheerenden Grenzkrieg gegeneinander, dem bis zu 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Äthiopien weigert sich, ein nach internationalem Recht Eritrea zustehendes Grenzgebiet abzutreten, und die eritreische Regierung reagierte darauf mit der Militarisierung der gesamten Gesellschaft. 2002 wurde der Nationaldienst, eine Kombination aus Wehr- und Wiederaufbaudienst, von 18 Monaten auf unbestimmte Zeit verlängert, was bedeutet, dass Frauen derzeit von 18 bis 27 Jahren, Männer ab 18 bis zum Alter von 50 oder manchmal auch 60 Jahren gegen ein Taschengeld Dienst leisten müssen. Selbst Siebzigjährige müssen noch Militärtrainings absolvieren und werden bewaffneten Nachbarschaftsmilizen zugeteilt. Die Menschen fliehen vor einem Staat, der sie im Rahmen des Nationaldienstes zu quasi lebenslanger Zwangsarbeit verpflichtet.

2. Warum nehmen die häufig jungen Menschen lieber eine lebensgefährliche Flucht in Kauf, als zum Militärdienst zu gehen?

Beim eritreischen Militär- bzw. Nationaldienst handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen, zeitlich befristeten Dienst, sondern um systematische Zwangsarbeit. Mit 18 Jahren beginnt die militärische Ausbildung beispielsweise Trainingscamp Sawa, in dem gleichzeitig das 12. Schuljahr absolviert wird. Nach der Ausbildung geht der Dienst weiter: als Lehrer, medizinisches Personal, Plantagen- und Bauarbeiter – alle arbeiten fast kostenlos für den Staat und haben keine Chance, mit ihrem Sold eine Familie zu ernähren.

3.  Sie haben einige Jahre in Eritrea gelebt und gearbeitet. Was haben Sie dort gemacht?

Ich habe u.a. Forschungen für meine Promotionsarbeit über die eritreische Entwicklungsstrategie nach der Unabhängigkeit betrieben und habe an der Universität Asmara unterrichtet. Als Ausländer das Land noch frei bereisen durften, bin ich viel herumgekommen und habe auch viele ländliche Regionen sowie eine schwer erreichbare Rotmeerinsel besucht. Ich habe mich über die Jahre mit Menschen in verschiedensten Lebensumständen unterhalten und konnte mir ein Bild von ihrem Alltag machen.

4. Wie haben Sie das Land und die Menschen wahrgenommen?

Eritrea ist ein landschaftlich sehr schönes Land mit großer kultureller Vielfalt und einem immensen Entwicklungspotential, das leider von der Regierung seit dem Krieg mit Äthiopien überhaupt nicht mehr genutzt wird. Durch die italienische Kolonialisierung sind viele Städte, vor allem die Hauptstadt Asmara, die unlängst zum UNESCO-Kulturwelterbe erklärt wurde, durch italienische Architektur geprägt. Die Hafenstadt Massawa, die durch die Osmanen geprägt wurde und ebenfalls über wunderschöne, schützenswerte Bauwerke verfügt, ist dagegen dem Verfall überlassen. Die neuen ethnischen Gruppen, die Eritrea bewohnen – etwa zur Hälfte Muslime und Christen – üben traditionell unterschiedliche Wirtschaftsformen aus: kleinbäuerliche Landwirtschaft im Hochland, eher nomadische Lebensformen in den Tiefländern. Entlang der 1000 km langen Rotmeerküste ist es extrem heiß, im Hochland herrscht dagegen moderates Klima. Das Leben auf dem Lande ist besonders für Frauen sehr mühselig, da oft Wasser und Holz über weite Strecken zu Fuß transportiert werden müssen. Das Leben der Bevölkerung wird seit 16 Jahren vom zeitlich unbefristeten Nationaldienst bestimmt, der ihnen autonomes Wirtschaften verwehrt. Sowohl die Subsistenzwirtschaft (Bedarfswirtschaft), von der ca. 80 Prozent der Bevölkerung lebten, als auch handwerkliche Betriebe und Fabriken leiden unter Arbeitskräftemangel, da die Menschen entweder im Nationaldienst arbeiten oder das Land verlassen haben.

5. Wie sieht es in den Bereichen Bildung und Gesundheit aus?

Die Regierung hat sich über die Jahre bemüht, die Gesundheits- und Bildungssektoren zu verbessern, aber da fast alle Lehrer und Gesundheitsfachkräfte heute Nationaldienstleistende ohne ausreichendes Gehalt sind, leiden beide Sektoren unter hoher Personalfluktuation und die Einschulungsraten sinken kontinuierlich. Das Land befindet sich in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale, von der es sich lange nicht erholen wird. Die Diaspora trägt derzeit mindestens ein Drittel zum Staatshaushalt bei und sichert zudem das Überleben im Land verbliebener Angehöriger.

6. Wie hat sich die Situation der Menschen in Eritrea in den letzten Jahren entwickelt?

Seit Einführung des zeitlich unbefristeten Nationaldienstes hat sich die Situation der Menschen extrem verschlechtert. Hunderttausende sind seither ins Ausland geflohen – die meisten in den Sudan und nach Äthiopien, viele arbeiten auf der arabischen Halbinsel – nur die wenigsten Geflüchteten erreichen Europa. Der UNHCR schätzt, dass etwa 5.000 EritreerInnen monatlich aus dem Land fliehen, obwohl dies ohne Ausreisevisum illegal ist und an der Grenze Schießbefehl herrscht. Andererseits sind korrupte Militärs in den Menschenschmuggel über die Grenze beteiligt.

7. Was müsste geschehen, damit sich die Lage im Land verbessert?

Besserung ist nur in Sicht, wenn das absurde System der lebenslangen Zwangsrekrutierung aufgegeben wird. Außerdem müsste die aktuell existierende Kommandowirtschaft liberalisiert werden, die auf staatlicher Zwangsarbeit beruht. Die Regierung ist jedoch nicht reformbereit und rechtfertigt das System mit der Bedrohung durch Äthiopien. In den letzten Jahren hat sich erwiesen, dass der Massenexodus das System stabilisiert, da die Geflüchteten verpflichtet sind, eine Diasporasteuer von 2 Prozent ihres Einkommens an die Regierung zu bezahlen. Zudem übernehmen sie die Versorgung ihrer Verwandten, die durch den Nationaldienst der Möglichkeit beraubt wurden, für sich selbst und ihre Kinder sowie für die ältere Generation zu sorgen. Die jetzige Regierung ist seit 1991 an der Macht, ohne dass jemals nationale Wahlen durchgeführt wurden. Solange sich an dieser Situation nicht ändert, wird die Massenflucht aus Eritrea weitergehen.

von Anja Hajduk

 

Immer noch sind zurzeit weltweit über 65 Millionen Menschen auf der Suche nach Schutz für sich und ihre Familien. Hamburg und Deutschland haben vor allem in den letzten zwei Jahren viele neue Geflüchtete aufgenommen. Hamburg ist Heimat geworden für Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan und vielen anderen Konfliktherden dieser Welt.

In meiner politischen Arbeit im Bundestag stand in den vergangenen Jahren häufig das Thema Kosten für die Ausgaben für Geflüchtete auf der Tagesordnung. Übersehen wird dabei der Faktor, dass durch Migration – vor allem Arbeitsmigration – auch Einkommen wieder in die Herkunftsländer zurück fließt. Viele Migrant*innen unterstützen ihre Familien, Verwandte und Bekannte, in dem sie einen Teil ihres Gehaltes nach Hause schicken, dies nennt man Rücküberweisungen. Laut Weltbank machten diese Geldtransfers weltweit im Jahr 2016 fast 380 Milliarden Euro aus. Das ist fast dreimal so viel Geld wie die Summe der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit aller Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), diese betrug 2016 „nur“ 125 Milliarden Euro. In vielen Ländern machen die Rücküberweisungen an die zu Hause gebliebenen Familien und Bekannten einen Großteil des Bruttoinlandsproduktes (BIPs) aus. Gerade für kleine und fragile Länder sind Rücküberweisungen extrem wichtig, in Nepal und im Libanon betragen diese fast 30 Prozent des BIPs.

Arbeitsmigration gab es schon immer und wird es auch immer in unserer globalen Welt weiter geben. Eine selbstbestimmte Migration sollte als Chance für Herkunfts- und Aufnahmestaat anerkannt werden. Sie wirkt positiv, da sie Familien in den Schwellen- und Entwicklungsländern unterstützt. Mit den Geldern wird Armut verringert, die lokale Wirtschaft gefördert und es eröffnen sich Bildungschancen für Kinder. Wenn die Migrant*innen wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, bringen sie neue Fähigkeiten mit und können eine Bereicherung für Wirtschaft und Gesellschaft sein. Arbeitsmigration hat aber auch eine Schattenseite. Sie führt ebenfalls dazu, dass die wenigen gut Ausgebildeten ihre Heimatländer verlassen und es so dort zu einem „braindrain“ kommt. Wenn die gut Ausgebildeten auch die Familienoberhäupter sind, werden Familien oftmals zerrissen, Kinder wachsen bei ihren älteren Verwandten auf, so entstehen in manchen Regionen regelrechte „Waisendörfer“. Rücküberweisungen sind daher nur ein Teil der Lösung zu mehr globaler Gerechtigkeit.

Für mich bleibt die beste Entwicklungspolitik diejenige, die Menschen davor bewahrt, ihre Heimat verlassen zu müssen. Fluchtursachenbekämpfung bedeutet für mich eine Politik umzusetzen, die daran arbeitet, die strukturellen Ursachen der Zerstörung von Lebensgrundlagen langfristig zu beheben. In der globalisierten Welt hilft es dabei wenig, wenn alle mit dem Finger auf die Anderen zeigen. Fluchtursachenbekämpfung heißt deshalb für mich zunächst nach der eigenen Verantwortung zu fragen und hier dafür zu sorgen, dass wir zum Beispiel keine Waffen in Krisengebiete liefern und die europäische Agrar- und Handelspolitik mit Afrika endlich fair gestalten. Mehr dazu auch im AutorInnenpapier: Grün.Global.Gerecht

 

Ihre Anja Hajduk

Bundestagsabgeordnete und Hamburger Spitzenkandidatin Bündnis 90/Die Grünen