In den beiden Orientierungskursen unseres Projekts Lernforum Altona mit den Fächern Deutsch (Niveaus B2 und C1), Mathematik und Englisch, die von montags bis freitags von zehn bis 14 Uhr im Jugendkunsthaus Esche stattfinden, sind momentan Schüler*innen aus zwölf verschiedenen Nationen − nämlich aus Afghanistan, Eritrea, der Türkei, Syrien, Nicaragua, Peru, Chile, Guinea, Irak, Iran, Tschetschenien und Nigeria − mit ihren entsprechenden Muttersprachen vertreten.
Manche der Teilnehmer*innen beherrschen neben Deutsch und ihrer Muttersprache noch eine oder gleich mehrere weitere Sprachen − aus unterschiedlichen Gründen: Zum einen sind erwachsene Geflüchtete aus Ländern vertreten, in denen mehrere Sprachen gesprochen werden oder sogar mehrere Amtssprachen existieren, und zum anderen stellt Deutschland für einige Schüler*innen die letzte Station einer umfangreicheren Migrationsgeschichte dar, die auch längere Aufenthalte in Transitländern einschloss.
Die Sprachkompetenzen des Afghanen Abdul gehen auf beide Ursachen zurück, denn er beherrscht die zwei Amtssprachen seines Heimatlandes, Dari und Paschtu, und daneben auch noch fließend Hindi sowie das Niederländische, da er 19 Jahre lang im Land der Tulpen und Windmühlen lebte und arbeitete, bevor er nach Deutschland kam. Niederdeutsche (bzw. plattdeutsche) Begriffe, darunter viele Hamburger Straßennamen, sind für ihn daher auch keineswegs böhmische Dörfer.
Abgesehen von Persisch, Deutsch und Englisch kann Bahar, ebenfalls aus Afghanistan, auch noch mit guten Norwegisch-Kenntnissen aufwarten, ihre Flucht führte sie nämlich über Skandinavien nach Hamburg.
Ibrahima aus Guinea, der demnächst ein Informatikstudium aufnehmen wird und dafür ein C1-Sprachzertifikat benötigt, ist in seinem Heimatland gleich zweisprachig aufgewachsen, er kann sich nicht nur in der Regionalsprache Pular verständigen, sondern auch in der gesamten frankophonen Welt, da sein Heimatland einst eine französische Kolonie war und Französisch dort als Amtssprache gilt.
„Tschetschenisch“, so erläutert Ibragim nicht ohne Stolz, „ist eine ganz besondere Sprache. Nur damit kann man altägyptische Hieroglyphen lesen. Darüber hinaus gibt es keine andere Sprache, die dem Tschetschenischen ähnelt.“ Der Familienvater, der nach seiner bestandenen B2-Sprachprüfung gerade eine Ausbildung zum Busfahrer absolviert hat, spricht außerdem noch perfekt Russisch, lernt Englisch und schnappt im Orientierungskurs eifrig das dort herumschwirrende persische Vokabular auf.
Des Persischen (Dari) ist als Afghanin auch Rania mächtig. Weil sie aber in Riad geboren wurde, hat sie zudem Arabisch gelernt. Davon abgesehen kann sie auch noch auf Usbekisch und − von Woche zu Woche besser − auf Deutsch kommunizieren.
Den Erwerb ihrer fremdsprachlichen Fähigkeiten erklärt Sodaba folgendermaßen: „Ich bin 21 Jahre alt und komme aus Afghanistan. Neben meiner Muttersprache Dari spreche ich fließend Hindi, Englisch und Italienisch. Das Erlernen dieser Fremdsprachen begann, als ich vor neun Jahren mit meiner Familie aus meiner Heimat Afghanistan nach Indien auswandern musste. Nachdem wir drei Jahre in Indien gelebt hatten, zogen wir weiter nach Italien und landeten später schließlich aus persönlichen Gründen in Deutschland. Seit fast drei Jahren lebe ich jetzt in Hamburg werde in ein paar Tagen die C1-Prüfung ablegen.“
Dass eine Flucht Spuren hinterlässt, ist eine traurige und bisweilen tragische Realität. Die Flucht hat bei vielen der in Deutschland neu angekommenen Menschen aber durchaus auch Kompetenzen hinterlassen, nicht zuletzt fremdsprachliche, eine Tatsache, die, wenn sie denn überhaupt einmal bemerkt wird, eher mit Desinteresse oder sogar Geringschätzigkeit bedacht wird: Obgleich sehr viele Eingewanderte eine zum Teil eindrucksvolle Mehrsprachigkeit vorweisen können, gelten sie oft genug nur als diejenigen, die „immer noch nicht richtig Deutsch sprechen können“.
Dabei stehen Bildung und Migration schon theoretisch in einem engen Zusammenhang. Denn Bildung bedeutet, wie sich im Kompositum „Bildungsgang“ andeutet, immer einen Übergang, einen Übergang von einem − geistig-intellektuellen, emotionalen, sozialen − (Bewusstseins-) Zustand in einen anderen. Führt einen die Bildung also stets an einen anderen Ort, auf ein fremdes Terrain, wo man nicht mehr ganz die- oder derselbe sein kann, so wird deutlich, dass die Bildung selbst eine Art Migrationsbewegung darstellt. Der Migrant bzw. die Migrantin stellt so gesehen eine Bildungsfigur par excellence dar; und zwar konkret insofern, als er oder sie sich auf ein fremdes Gebiet wagt oder wagen muss, wo es sich zurechtzufinden und zu behaupten gilt, oder, um es drastischer zu formulieren, weil es sich für einige − gestern wie heute − tatsächlich so drastisch ausnimmt, wo sich die Überlebensfrage stellt. Der Migrant und die Migrantin sind mithin geradezu zur Bildung, zum Denken und Lernen verdammt, in erster Linie dazu, sich die fremde Sprache anzueignen, um sich in der neuen Umgebung artikulieren zu können und nicht als „Stammler“ oder „Laller“, so die Übersetzung des altgriechischen Wortes „Barbar“, ausgegrenzt zu werden.
Dieser Herausforderung mussten sich nicht wenige der nach Deutschland Geflüchteten gleich mehrfach stellen. Die daraus hervorgegangenen Leistungen sollte man daher verstärkt sichtbar machen und würdigen, anstatt immer nur die noch bestehenden, offensichtlichen oder sofort hörbaren Defizite zu exponieren.
Hier ist der Link zum Film: https://drive.google.com/file/d/1U9HLTA9vpgLx-wyPY7mPGhAkE3802g-6/view